Evaluationsprozesse

Zeitgenössisches schweizerisches Verfassungsdenken ist neben der Orientierung an den bereits erwähnten Rechten zudem der Idee der Verfahrensgerechtigkeit verpflichtet. Daraus folgt die Forderung nach breiter Einbeziehung aller Betroffenen ("Stakeholder") und ihrer Interessen sowie eine sorgfältige Abwägung differierender Gesichtspunkte im Einzelfall.

Die vorgeschlagenen Prozesse sind darüber hinaus inspiriert von einem mit Blick auf praktische Umsetzbarkeit modifizierten Konzept einer "Accountability for Reasonableness", welchem als tragende Prinzipien zugrunde liegen: grösstmögliche Transparenz, Relevanz im Sinne von Evidenzbasierung und Fairness, Beschwerderechte und Verbindlichkeit.

Scope und Balance des HTA-Prozesses

Health Technology ist ein umfassender Begriff und schliesst (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) ein: Medikamente, Medizinprodukte, diagnostische Massnahmen, medizinische und chirurgische Verfahren, komplexe klinische Versorgungspfade, organisatorische und administrative Settings.

Mit Ausnahme des "offenen" Leistungskatalogs werden neue Technologien in der Regel erst nach einer Bewertung ("rHTA") in den ("geschlossenen") Leistungskatalog der OKP aufgenommen und damit automatisch Gegenstand eines Health Technology Assessment.

Besonders grosse Effizienz- und Qualitätssteigerungspotentiale sind jedoch insbesondere im Bereich der Bestandstechnologien realisierbar. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, soll ein spezielles Programm für die systematische Evaluation von Bestandstechnologien ("cHTA") definiert werden, dessen Umfang anhand festgelegter quantifizierbarer Zielkriterien messbar sein muss. Um diesbezüglich Ausgewogenheit sicherzustellen, wird als Zielgrösse hierfür ein Minimum von 12 bis 18 abgeschlossenen cHTAs pro Jahr vorgeschlagen.

Kriterien für die Selektion von Technologien für HTAs

Robuste HTAs sind qualitativ anspruchsvoll, aufwendig in der Durchführung und müssen ihrerseits dem Effizienzkriterium genügen. Deshalb sollen nicht sämtliche denkbaren Leistungen im Rahmen der OKP einem HTA unterzogen werden. Als Selektionskriterien für die Auswahl von HTA-Themen werden daher vorgeschlagen:

1. Neue Technologien (Produkte und Verfahren) vor einem Entscheid über ihre Aufnahme auf eine Positivliste und/oder bei voraussehbar grossen Kostenfolgen (budgetäre Relevanz) und/oder bei Bestrittenheit im konkreten Fall

2. Etablierte Technologien (Produkte und Verfahren) anhand ihrer Systemrelevanz:

  • Budgetbelastung (/Opportunitätskosten); 
  • Prävalenz und / oder Krankheitslast ("Burden of Disease"); 
  • (auch) im Fall ihrer Bestrittenheit bei unklarer Evidenzlage; 
  • insbesondere (auch) dann, wenn Klinische (oder andere Anwendungs-)Leitlinien für ein Indikationsgebiet entwickelt werden sollen

3. Reevaluation von Technologien im Regelfall nach drei Jahren (in Einzelfällen auch davon abweichend, angepasst an die jeweilige Situation, nach zwischen zwei und fünf Jahren)

Trennung von Assessment, Appraisal, Decision (Entscheid)

Die Verantwortung für HTAs könnte einem Schweizer„HTA-Institut oder im Zusammenhang mit der Qualitätsinitiative des Bundes gegebenenfalls auch einem Schweizer Institut für Technologie-Evaluation und Qualität im Gesundheitswesen übertragen werden.

  1. Assessment:
    Aufgabe: rigorose formale Synthese der verfügbaren Evidenz als zielorientierte Unterstützung des folgenden (Appraisal)
  2. Appraisal:
    Aufgabe: umfassende Evaluation, Identifikation von Evidenzlücken, und Empfehlungen auf Basis des Assessment als Grundlage für Entscheide

Erstattungs-, Preis- und andere Entscheide sind nicht Bestandteil des eigentlichen HTA-Prozesses, der hierfür die wesentliche Informationsbasis (vorrangig durch Zuordnung zu evidenzbasierten Nutzenkategorien, sowie darüber hinaus die Bestimmung von Kostenfolgen und Kosten-Nutzen-Relationen) schafft:

Entscheid(e) (Decisions) verbleiben demzufolge in der Verantwortung des Eidgenössischen Departement des Inneren (EDI) bzw. des BAG:

  • Erstattungs- und Preisentscheide,
  • Forschungsauflagen und ihre Durchsetzung,
  • Qualitätsgesicherte medizinische Versorgung: Entwicklung von Anwendungs- und Klinischen Leitlinien (mit den Medizinischen Fachgesellschaften) einschliesslich Monitoring ihrer Umsetzung.

Rapid (r)HTA- und Complete (c)HTA-Prozess

Um ein sachgerechtes, differenziertes Verfahren für die Evaluation sowohl von neuen als auch von Bestandstechnologien bei gleichzeitig einheitlichen Bewertungskriterien zu gewährleisten, werden zwei separate Teilprozesse eingeführt:

Prozess: primär für neue Technologien:

Rapid (rHTA-)Prozess
primär für Bestandstechnologien:

Complete (cHTA-)Prozess
Primäre Ziele:   Bewirtschaftung des Leistungskatalogs
Systematischer Review der verfügbaren Evidenz und ihrer Qualität Systematischer Review der verfügbaren Evidenz und ihrer Qualität
Definition Forschungsbedarf Definition Forschungsbedarf
Grundlagen für Entscheide über Erstattungsfähigkeit und -höchstpreis Grundlagen für die Entwicklung verbindlicher Anwendungsleitlinien und ggf. Überprüfung von Erstattungsfähigkeit u. -höchstpreisen
Verantwortung: Dossier von Antragsteller

Review durch HTA-Institut / akademische Review-Gruppe (Dossier Assessment Group, DAG)
akademische Einrichtung (Academic Assessment Group, AAG; beauftragt von HTA-Institut)

Phasen: Early Consultation (HTA-Institut, optional)

Dossier Submission/Triage (BAG): Bypass, Fast Track od. Standard-rHTA
Assignment (BAG; konsolidierte Vorschläge von HTA-Institut)

Scoping
(HTA-Institut)
Assessment (HTA-Institut; DAG) Assessment (HTA-Institut; AAG)
Appraisal (HTA-Institut; Kommissionen) Appraisal (HTA-Institut; Kommissionen)
Decision (BAG) Decision (BAG)
Finanzierung: Antragsteller (Gebühren) Mischfinanzierung: paritätisch durch OKP (Beiträge); Bund; Gebühren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rapid (r)HTA-Prozess

Zu den besondere Merkmalen des rHTA-Prozesses gehört das (von den Antragstellern als Option wahrnehmbare) Beratungsangebot (gebührenpflichtiger) „Early Consultations“, welche dem Informationsaustausch mit dem später für die Durchführung eines rHTA verantwortlichen Institut dient. Die Gegenstände einer Early Consultation ergeben sich primär aus dem Beratungsbedarf des Technologie-Entwicklers.

Darüber hinaus wird durch eine „Triage“ der eingereichten Dossiers (beim BAG) zu Beginn des rHTA-Prozesses sichergestellt, dass der Evaluationsprozess möglichst speditiv und effizient durchgeführt werden kann. Anhand einer formalen Vorprüfung offensichtlich unvollständige oder fehlerhafte Dossiers werden innert zwei Wochen an den Antragsteller mit Begründung zwecks Überarbeitung und allfälliger Neueinreichung zurückgegeben. Weiterhin bestehen anhand transparenter Kriterien die Möglichkeiten eines Bypass- und eines Fast Track-Verfahrens.

Key Stakeholder (jeweils vertreten durch ihre Verbände auf Bundesebene) sind grundsätzlich Patienten, Ärzteschaft und andere Leistungserbringer, Krankenversicherer sowie Technologieanbieter (die letztgenannten bei direkter Betroffenheit auch individuell). Weitere Stakeholder sind beispielsweise Fachwissenschaftler, HTA-Experten und Gesundheitspolitiker.

Complete (c)HTA-Prozess

Der cHTA-Prozess beginnt mit einer strukturierten Themensammlung beim BAG, welche durch einen Fachausschuss des HTA-Instituts einer Bewertung anhand der definierten Selektionskriterien (vgl. oben) unterzogen und in einer konsolidierten Vorschlagsliste dem BAG zum Entscheid vorgelegt werden. Auf dieser Grundlage beauftragt das BAG das HTA-Institut mit der Durchführung von cHTAs („Assignment“).

Nach erfolgtem Assignment leitet das HTA-Institut den Evaluationsprozess ein, beginnend mit einer Operationalisierung der Fragestellung mit Beteiligung von Stakeholdern und Experten („Scoping“) unter anderem hinsichtlich Komparatoren, Subgruppenanalysen, Art, Perspektive und Zeitplan der Analysen („Assessment Protocol“).

Der cHTA-Prozess sieht während der Phasen des Assessment und des Appraisal klar definierte Mitwirkungsmöglichkeiten für Stakeholder vor.

Beschwerderechte (Appeal-Verfahren)

Die Ausgestaltung von Beschwerderechten muss gegen möglichen Missbrauch durch Vertreter von Partikularinteressen abgesichert werden. Beschwerden haben deshalb grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung auf Entscheide.

Beschwerden sind nur nach einem erfolgten Entscheid zulässig.

Beschwerderechte gegen (positive und negative) Entscheide werden (nur) den davon materiell oder wirtschaftlich Betroffenen eingeräumt; dazu gehören Hersteller und ihre Verbände, sowie auf Bundesebene die nationalen Verbände von Versicherern, von Leistungserbringern und von Patienten. Beschwerden können sich gegen formale Fehler und gegen fehlerhafte Entscheidungsgrundlagen (Assessments, Appraisals) richten. Sie werden vor einem von den Appraisal Committees und den Entscheidern unabhängigen Appeal Committee verhandelt und auf dieser Grundlage speditiv (innert insgesamt maximal drei Monaten) entschieden.

Aus juristischer Sicht ist unter anderem zu bedenken, dass eine Verankerung einer generellen Anfechtbarkeit auf Gesetzesstufe erforderlich werden kann. Neu müsste demzufolge stets verfügt statt verordnet werden. Im KVG könnte verankert werden, dass Entscheide gestützt auf das Ergebnis eines HTA-Verfahrens innert 30 Tagen mittels Beschwerde an ein entsprechendes Appeal Committee (unabhängige Beschwerdeinstanz) weitergezogen werden können. Ein allfälliges Verbandsbeschwerderecht müsste ebenfalls auf Gesetzesstufe verankert werden.

Transparenz

Im Sinne des Schweizer BGÖ von 2004 und international anerkannter Standards für „Gute HTA-Praxis“ – sowie unter Berücksichtigung der Kriterien für „Accountability for Reasonableness“ – wird grösstmögliche Transparenz des HTA-Prozesses angestrebt. Das bedeutet Veröffentlichung der Evaluationskriterien und -methoden sowie aller HTA-prozessbezogenen Standards; Veröffentlichung von prozessbezogenen Informationen; Veröffentlichung der Schlüsseldokumente von Assessments und Appraisals; Wahrung der Vertraulichkeit aller personenbezogenen Informationen bei gleichzeitiger Offenlegung der potentiellen Interessenkonflikte der am HTA-Prozess Beteiligten.