Evaluationsmethoden

Nutzenbewertung

Bewertungen sollen im Grundsatz stets im Vergleich zum gegenwärtigen „Standard of Care“ in der Schweiz erfolgen.

Der potentielle (Mehr-)Nutzen von Interventionen soll umfassend evaluiert werden; dazu zählen aus individueller (Patienten-)Perspektive klinisch-/therapeutische Effekte und Lebensqualität, aber auch Nutzen aus der individuellen Perspektive Dritter (Beteiligte/Unbeteiligte: „Public Health-Nutzen“, zum Beispiel bei Impfungen; letzterer soll grundsätzlich restriktiv interpretiert werden).

Sozioökonomischer Nutzen (einschliesslich „indirekter“ volkswirtschaftlicher Folgen) geht unter dem Wirtschaftlichkeitskriterium (Kostenfolgenanalysen und, unter Umständen, Effizienzanalysen – siehe unten) in die Evaluation ein.

Klinisch-therapeutische Effekte (einschliesslich Verbesserungen der Lebensqualität) werden anhand ihrer Relevanz und ihrer Grösse bewertet; zusätzlich werden das verfügbare Evidenzniveau relativ zum kontextabhängig besten erwartbaren Evidenzniveau, die Praxisrelevanz mit Blick auf das Schweizer Gesundheitswesen sowie die Qualität der vorliegenden Studien berücksichtigt. Hieraus wird der Grad des Vertrauens abgeleitet, ob (und ggf. in welchem Ausmass) zukünftige Forschung die Grösse der beobachteten Effekte wahrscheinlich verändern wird.

Wird das erwartbare (mögliche) Evidenzniveau und/oder die Relevanz und/oder Studienqualität unterschritten, so folgt daraus eine Herabstufung („Downgrading“) der Intervention im vergleichenden Nutzen-Rating.

Ein Downgrading kann um bis zu zwei Stufen erfolgen, und zwar um je eine, wenn

  • das dokumentierte formale Evidenzniveau niedriger ist als das kontextabhängig bestmögliche erwartbare Evidenzniveau;
  • die Qualität der Daten nicht hinreichend überzeugend ist, entweder wegen methodischer Mängel der Studien oder wegen Limitationen der verfügbaren empirischen Datenbasis.

Ausnahmsweise kann ein Downgrading um bis zu eine Stufe kompensiert werden, wenn sehr grosse positive Effekte einer Intervention beobachtet wurden, eine eindeutige Dosis-Wirkungs-Beziehung besteht, und wenn alle denkbaren Quellen von Bias den beobachteten Effekt allenfalls verringern würden.

Der auf diese Weise integrativ und kategorial bewertete (Mehr-)Nutzen aus individueller Perspektive ist eine Grundlage nicht nur für die Zweckmässigkeits- und Wirtschaftlichkeitsbewertung der Intervention, sondern – zusammen mit letzteren – zugleich auch für nachfolgende Erstattungs- und Höchst-preisentscheide des BAG.

Zweckmässigkeitsbewertung

Die Zweckmässigkeitsbewertung ergänzt die individuelle Perspektive der Wirksamkeitsbewertung um eine soziale Perspektive. Sie besteht aus der Prüfung auf Konformität mit den prioritären Zielen einer solidarischen Gesundheitsversorgung im Rahmen der OKP. Hierfür sind neben normativen Prämissen die empirisch belegbaren Erwartungen einschliesslich der Bereitschaft zu Trade-Offs (die sog. „sozialen Präferenzen“) der Schweizer Versicherten massgeblich; hierzu besteht weiterer Forschungsbedarf ), insbesondere hinsichtlich der gebotenen Validierung der vorliegend aufgrund der nationalen und inter-nationalen Studienlage getroffenen Annahmen zu den Zielen einer solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung und damit zu den Zweckmässigkeitskriterien, einschliesslich ihrer Rangfolge und Gewichtung.

Wirtschaftlichkeitsbewertung

Ausgangspunkt jeder Wirtschaftlichkeitsbewertung im Rahmen des HTA-Prozesses sind Kostenfolgenanalysen. Ihr Ziel ist die Schaffung von Transparenz über die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen eines Entscheids auf alle Kostenträger (einschliesslich der OKP und der Patienten), sowie ggf. auf die volkswirtschaftlichen Kosten. Sie beinhalten (u.a.) Szenarien mit unterschiedlichen Preisannahmen.

Bei Überschreiten von kritischen Budgetbelastungen für die OKP (projiziert innert der folgenden fünf Jahre im Fall von neuen Interventionen, tatsächlich oder projiziert bei Bestandstechnologien) werden formale Effizienzanalysen erforderlich.

Vor diesem Hintergrund werden Effizienzanalysen – vorläufig – auf Analysen der technischen und produktiven Effizienz beschränkt, d.h., es wird – zunächst – explizit auf patientengruppenübergreifende ökonomische Vergleiche verzichtet. Ins Praktische gewendet impliziert dies die ausdrückliche Zurückweisung der Idee einer universal gültigen, kontextunabhängigen Grenze (oder eines „Benchmarks“) für maximal akzeptable Kosten je QALY als Mass für die Effizienz einer Intervention.

Ein solches universales Benchmark wäre auch theoretisch nur denkbar, wenn die Hypothese zuträfe, dass das primäre Ziel eine solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung in der Maximierung der Zahl der mit einem gegebenen Ressourceneinsatz „produzierten“ QALYs wäre. Es muss aus heutiger Sicht als empirisch falsifiziert gelten, dass diese Vermutung (die sogenannte „QALY-Maximierungshypothese“) mit den sozialen Präferenzen der Versicherten in Einklang gebracht werden könnte.

Nach dem Prinzip des Methodenpluralismus soll im Rahmen des HTA-Prozesses die im Einzelfall am besten für eine aussagekräftige Differenzierung der evaluierten Intervention(en) geeignete ökonomische Evaluationsmethodik gewählt werden. Hieraus ergibt sich zugleich die Notwendigkeit von Early Consultations (im rHTA-Prozess) und Scoping (im cHTA-Prozess).

Notwendige Grenzsetzungen

Die Notwendigkeit von Grenzsetzungen wird anerkannt. Die Grenzen werden aus den konkretisierten WZW-Kriterien abgeleitet und schliessen ein:

  • bezüglich der Wirksamkeitskriterien die Forderung nach einem belegbaren Mehrnutzen, der Relevanz und Grösse von Effekten, dem Niveau und der Qualität der vorliegenden Evidenz,
  • bezüglich der Zweckmässigkeitskriterien den Ausschluss von “Bagatellen” (anhand der Geringfügigkeit der Gesundheitsstörung oder der Zumutbarkeit der Eigenfinanzierung durch die Versicherten; Beurteilungsbasis: Kostenfolgenanalyse aus Versichertenperspektive) aus dem Leistungskatalog der OKP
  • bezüglich der Wirtschaftlichkeitskriterien den möglichen Einfluss der gesamten Kostenfolgen (Programmgrösse) auf zweckmässige Erstattungs- und Preisentscheide
  • den Ausschluss (oder die adäquate Kostensenkung) technisch und produktiv ineffizienter Technologien.

Weiterentwicklungspotential der Methodik

Aufbauend auf den konsentierten Prinzipien besteht das Potential für eine zielgerichtete Weiterentwicklung der Grenzsetzungen um ein Effizienzkriterium, welches den Erfordernissen der Zweckmässigkeit Rechnung trägt. In diesem Rahmen erscheinen

  • (im Sinne einer Approximation) in Abhängigkeit des Schweregrads und der Häufigkeit einer Gesundheitsstörung variable Kosten/QALY Benchmarks und
  • (perspektivisch) direkte Methoden, relative soziale Zahlungsbereitschaften zu messen,

als aussichtsreiche Optionen. Hierzu besteht aus heutiger Sicht weiterer Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Konkrete Vorschläge für nächste Schritte werden unterbreitet.

Umgang mit Unsicherheit

HTAs beseitigen Unsicherheit nicht, sondern identifizieren und charakterisieren Unsicherheit und fehlende Evidenz. Dabei ist zwischen prinzipiell (noch) nicht verfügbarer und nicht generierter erwartbarer klinischer und ökonomischer Evidenz zu differenzieren. Der Umgang mit Unsicherheit schliesst einerseits die Anwendung von Modellierungstechniken (ohne Beweiskraft) einschliesslich Szenario- und Sensitivitätsanalysen, andererseits von Managed Entry-Strategien (befristete konditionierte Erstattung und Reevaluation, Coverage with Evidence Development und Risk Sharing-Vereinbarungen) ein.